Mehr und mehr zieht die kuhgebundene Kälberaufzucht die Aufmerksamkeit der Milchviehhalter und -halterinnen, der Berater und Beraterinnen sowie der Molkereien auf sich. Worauf grundsätzlich zu achten ist, konnten Interessierte in einem Onlineseminar der Landwirtschaftskammer NRW verfolgen.
„Wir haben die kuhgebundene Kälberaufzucht mit einigen Kälbern ausprobiert - wie machen wir nun weiter? Haben Sie dazu Kontakte oder Informationsmaterial, um sich Systeme genauer anschauen zu können?“ So oder so ähnlich erreichen die Berater und Beraterinnen des Fachbereichs Ökolandbau der Landwirtschaftskammer NRW immer häufiger Anfragen von Landwirt/innen, die sich mit der Aufzuchtform der kuhgebundenen Kälberaufzucht beschäftigen. Anfang Dezember fand passend dazu das Onlineseminar „Muttergebundene Kälberaufzucht“, angeboten von der Landwirtschaftskammer Nordrhein-Westfalen, statt.
Rund 15 Teilnehmer folgten den Vorträgen von Dr. Kerstin Barth, Thünen Institut, und Aneka Meinel, Hofgut Eichigt. Beide verfügen über mehrjährige Erfahrungen in diesem Themengebiet aus der Forschung und der Praxis. Gleich zu Beginn schmunzelte Kerstin Barth in die Kamera und verkündete, sie habe den Titel der Veranstaltung für ihren Vortrag etwas verändern müssen. „Muttergebundene Kälberaufzucht - darauf beschränkt sich mein Vortrag nicht. Ich spreche über die kuhgebundene Kälberaufzucht, die neben den Müttern auch Ammen miteinschließt. Der physische Kontakt bleibt derselbe, Ammen oder Mütter und ihre Kälber müssen sich laut Definition beriechen und belecken können, das Saugen am Euter und das Spielen miteinander muss zudem möglich sein“, so die konkrete Definition der Referentin.
Die Vielfalt der Systeme kuhgebundener Kälberaufzucht ist enorm. Dr. Barth machte deutlich, dass es bislang noch keine Standardverfahren dieser Aufzuchtform gebe. „Zumeist entwickeln sich die Systeme vor dem Hintergrund der vorhandenen Stallkapazitäten und der Betriebsstrukturen.“ Hilfreiche Tipps könne hier der kostenlose Handlungsleitfaden Kuhgebundene Kälberaufzucht liefern. „Klar ist jedoch, dass es bei nahezu allen Systemen der kuhgebundenen Aufzucht zu hohen Milchaufnahmen pro Kalb von 10 bis 15 l kommt. Bei vielen Umsetzungsformen kann die Milchaufnahme pro Kalb entweder über die Kontaktzeit oder über die Anzahl Kälber pro Amme gesteuert werden. So nehmen Ammenkühe fremde Kälber an und versorgen dann zwischen zwei und vier Kälber zeitgleich, sie werden in der Regel nicht gemolken“, erläuterte die Referentin weiter.
Bei muttergebundener Aufzucht versorgen die Kühe hingegen nur das eigene Kalb und werden zusätzlich gemolken. Hier wird die Milchmenge häufig durch zeitliche Begrenzung der Kontaktzeit gesteuert. Die Kälber können unbegrenzt, halbtags oder nur stundenweise Kontakt zur Mutterkuh erhalten. Im stundenweisen System werden pro Tag zumeist zwei Treffen von 30 Minuten bis zwei Stunden angeboten. Besteht bei diesem System hingegen ein unbegrenzter Kontakt, kann es aufgrund des freien Zuganges zu einer Milchaufnahme von bis zu 20 l pro Kalb und Tag kommen. „Neben dieser Gruppierung der Systeme bestehen selbstverständlich dutzende Kombinationsmöglichkeiten der Systeme miteinander und auch mit der klassischen Eimertränke“, so Dr. Barth.
Bei so hohen Milchaufwendungen kommt schnell die Frage auf, aus welchem Grund sich diese Aufzuchtform in der landwirtschaftlichen Praxis etablieren sollte. Klar ist: Seitens des Gesetzgebers oder der Verbände bestehen derzeit keine Überlegungen, diese Aufzuchtform verpflichtend werden zu lassen. Auch aus ökonomischen Gründen steigen Landwirte bislang kaum in die kuhgebundene Aufzucht ein. Laut einer von Dr. Barth vorgestellten Studie gaben über drei Viertel der Befragten vielmehr das Tierwohl, den geringeren Arbeitsaufwand, die bessere Kälbergesundheit oder das Hinterfragen gängiger Methoden als Gründe an.
Aneka Meinel vom Hofgut Eichigt beschreibt, dass für sie die Umstellung auf eine behornte Milchkuhherde ein Grund war, die kuhgebundene Kälberaufzucht im Betrieb umzusetzen. Durch diese Aufzuchtform, die zu einem besseren Sozialverhalten der so großgezogenen Kälber führt, sollen Rangkämpfe vermindert werden. Zudem seien die Kälber „fitter und vitaler“, es entspreche den Verbraucherwünschen und auch die Mitarbeiter wüssten die nun völlig andere Arbeit sehr zu schätzen. „Zwar beinhaltet es wesentlich mehr Beobachtungsarbeit, doch entfallen das Anrühren und Verteilen der Milch, das Waschen der Eimer sowie die Entmistung und Reinigung der Kälberiglus“, zählte die Leiterin der Tierhaltung des Hofguts auf. Dennoch sei es ein Prozess, der eine stete Optimierung nach sich zieht. Zu Beginn, im Jahre 2019, sollten beispielsweise ausschließlich Kühe zum Ende der Laktation als Ammen die Kälberaufzucht übernehmen, doch diese eigneten nur ungenügend als Ammen. „Heute zieht jede Kuh ihr eigenes und zwei bis drei weitere Kälber auf, so gelingt zu dieser Zeit das Annehmen fremder Kälber wesentlich besser“, beschrieb Meinel.
Das zeigt: Die Umsetzung der kuhgebundenen Kälberaufzucht ist keinesfalls ein Selbstläufer. Vieles muss ausprobiert und eine geeignete, betriebsindividuelle Lösung gefunden werden. Wichtig ist es, vorab möglichst mit einigen wenigen Tieren einen Testlauf durchzuführen, um sich an die neuen Abläufe zu gewöhnen, wozu insbesondere das Absetzen zählt. „Gerade das abrupte Absetzen führt zu enormem Stress, der sich sowohl lautstark als auch durch Leistungseinbrüche bei Kuh und Kalb äußert und somit definitiv vermieden werden sollte“, mahnte die Referentin. Geeignete Mittel sind hier zum Beispiel ein langsames Verringern der Kontaktzeiten oder der Einsatz von Saugentwöhnern, die aus der Mutterkuhhaltung stammen, um das Saugen am Euter zu unterbinden.
Neben dem Sammeln eigener Erfahrungen bietet sich darüber hinaus ein Austausch mit praktizierenden Landwirten an, um ein System zu finden, dass zu den persönlichen, aber auch baulichen Voraussetzungen passt. Dr. Kerstin Barth machte ebenso deutlich, dass auch der Weg zurück zur Eimertränke jederzeit offensteht. Nicht für jeden Betriebsleiter oder Mitarbeiter komme die Aufzuchtform in Frage. Sie fügte hinzu: „Die kuhgebundene Aufzucht darf nicht als Allheilmittel angesehen werden, sondern bedarf derselben Arbeit und Hygiene, wie es eine klassische Aufzucht bedarf.“ Erkrankungen, wie Durchfälle oder Atemwegsinfekte, treten auch hier auf. Dazu berichtete die Praktikerin Meinel: „Es kommt nicht seltener als zuvor zu Erkrankungen, die Kälber überstehen sie jedoch besser“.
Für einen Vergleich der Aspekte, die entweder für die Umsetzung der kuhgebundenen Kälberaufzucht oder für die klassische mutterlose Aufzucht sprechen, brachte Dr. Barth diese kurz und anschaulich vor.
Tessa Alkämper,
Landwirtschaftskammer NRW
Bereits seit 2021 arbeitet auch die Landwirtschaftskammer NRW an diesem Thema. Im Vordergrund steht bei der Arbeit des Fachbereichs Ökologischer Land- und Gartenbau die Beantwortung von Fragen aus der Praxis und der Erkenntnisgewinn durch Praxisforschung. Hierzu wird derzeit eine Umfrage durchgeführt. Ziel ist es, Erfahrungen von Betrieben mit kuhgebundener Aufzucht zu sammeln, um mit diesen Informationen Strukturen, Medien und Formate zu entwickeln, die Betriebe mit dieser Aufzuchtform oder mit dem Wunsch, auf diese Form umzustellen, besser unterstützen zu können.